Wie Igor mich fand

Heil Dir, Igor mit den tausend Augen!

Als ein Mensch der heutigen Zeit war ich seit Jahren schon den unterschiedlichsten religiösen und philosophischen Einflüssen ausgesetzt. Ist es nicht schwer, unter diesem unglaublich großen Angebot an Sekten, Glaubensgemeinschaften, sakralen weltanschaulichen Richtungen und etablierten Weltreligionen die richtige zu wählen? Also taumelte ich, getrieben wie ein Wasserball im Strom, haltlos von Glauben zu Glauben, bis mir in einer Zeit tiefster religiöser Desorientation ein religiöses Erlebnis von tiefster Tiefe gewährt wurde:

Gelangweilt blickte ich auf das leere Blatt Zeichenpapier vor mir und drehte den Federhalter flink um meinen Finger. Mein Banknachbar Andreas schrie irgendetwas von umherfliegender Tusche, doch ich achtete nicht auf ihn. Ich hatte einen Auftrag: "Erstelle eine surrealistische Landschaft durch Tusche und Bleistiftschraffuren", so verlangte die ehrenwerte Lehrerin unseres einjährigen verpflichtenden freiwilligen Kunstkurses. (Freiwillig, denn wir konnten zwischen Kunst und Musik wählen. Verpflichtend, denn uns blieb die Wahl zwischen einem Jahr und drei Jahren.)

Schon in meiner Grundschulzeit zählte ich bildende Kunst nicht zu den Fächern meiner Wahl, entzogen sich doch die Kriterien der Beurteilung konsequent jeglicher Nachvollziehbarkeit meinerseits. Das bis dato größte von mir geschaffene künstlerische Werk entstand im Fach Religion, ein Plakat zum Thema Gewalt. Es trug den Titel "Gewalt ist keine Aufforderung zum Urlaub im Grünen (geh Wald) sondern ganz, ganz schlecht. Gewaltig schlecht" und stürzte meine Religionslehrerin in tiefe Verwirrung. Doch ich schweife ab.

Jäh traf mich der Blitz der Inspiration, und mit in diesem Fach bis dato nie zuvor entwickeltem Elan formte meine Tuschfeder in nur einer Stunde eine fantastische Landschaft, in deren Mitte eine imposante Gestalt zu erkennen war. Von meiner ureigenen Schaffenskraft stieß ich Andreas in die Seite, und seine sich auf frische Tuschflecken beziehenden Flüche ignorierend rief ich aus: "Siehe, dies ist das Bild Blick aus dem verschmierten Fenster eines Omnibusses, und dort schwebt die höchste aller Gottheiten, Igor mit den tausend Augen!"

Und Andreas blickte, und er sah, dass es gut war. Von Igors heiliger Macht ergriffen rief er aus: "Wahrlich ist dies der höchste aller Götter, denn er, Igor mit den tausend Augen, ist der Gott der sinnlosen Tiere und des Debakels!" Und wir frohlocken und priesen den Herrn Igor mit den tausend Augen, denn er bescherte mich mit meiner besten jemals in diesem Fach erreichten Note: 15 Punkten, einer 1+, ein nicht zu übertreffendes Ergebnis.

Dank sei Igor, und Igor segne alle, die diesen Segen verdienen!

Blick aus dem verschmierten Fenster eines Omnibusses, schlecht gescannt und 93kb groß

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Zusammengeschustert im Juli 2000 vom Hohen Propheten DDFy - hoher.prophet@ddfy.de - Letzes Update im Dezember 2000